Ein aktueller Fall vor dem Sozialgericht Köln zeigt, wie Krankenkassen mit formalen Tricks rechtsstaatliche Pflichten verzögern und dabei keine Rücksicht auf ihre Versichterten nehmen
Ein Musterfall bürokratischer Abschottung
In einem laufenden Verfahren vor dem Sozialgericht Köln steht die Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK) wegen einer erstaunlichen Praxis im Fokus: Trotz klarer gesetzlicher Vorgaben verweigerte die Kasse einer schwangeren und gleichzeitig erkrankten Versicherten über Wochen hinweg die Akteneinsicht, die ihr nach § 25 SGB X zusteht.
Erst nachdem das Gericht die SBK ausdrücklich zur Stellungnahme aufforderte, reagierte sie – und zwar mit einem juristisch überladenen, aber inhaltlich ausweichenden Schreiben. Das Verhalten wirft die Frage auf, ob hier noch pflichtgemäß gehandelt oder bereits systematisch verschleppt wird.
Das Recht auf Akteneinsicht ist kein Gnadenakt
Nach § 25 Abs. 1 SGB X haben Beteiligte eines Verwaltungsverfahrens das Recht, die Akten einzusehen, „soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung rechtlicher Interessen erforderlich ist“. Dieses Recht ist unverzüglich zu gewähren – ohne Bedingungen, ohne Gebühren, ohne Hürden.
Es handelt sich um eine Konkretisierung des verfassungsrechtlich garantierten rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und der Waffengleichheit im Verwaltungsverfahren. Wenn eine Krankenkasse Akteneinsicht nur „nach Termin-absprache oder gegen Entgelt“ anbietet, ist das kein Verwaltungsservice, sondern ein klarer Verstoß gegen elementare Verfahrensgrundsätze.
Die Standardausrede: „Zu viele Dokumente“
In ihrer Stellungnahme vom 21. Oktober 2025 behauptet die SBK, sie habe „wegen der Fülle eingegangener Dokumente“ noch keine Akteneinsicht gewähren können. Diese Argumentation ist juristisch nicht tragfähig. „Arbeitsüberlastung“ entschuldigt kein rechtswidriges Verhalten.
Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass die ordnungsgemäße Organisation der Verwaltung Aufgabe der Behörde selbst ist – nicht Problem der Bürgerinnen und Bürger. Wenn eine bundesweit agierende Krankenkasse organisatorisch nicht in der Lage ist, Akten für Ihre Versichterten geordnet bereitzustellen, stellt sich vielmehr die Frage, was für ein heruntergekommende Klitsche diese Betriebskrankenkasse sein soll.
Form vor Fairness – wenn kopierte Zitate Substanz ersetzen
Das Schreiben der SBK stützt sich auf eine beeindruckende Menge juristischer Paragraphen und Zitate – von § 86b SGG über § 920 ZPO bis hin zu Entscheidungen diverser Landessozialgerichte. Doch trotz dieses formalen Aufwands fehlt das Wesentliche: Es findet keine Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Sachverhalt statt. Die Gründe für die Untätigkeit werden gar nicht erst erläutert. Diese Art der Verteidigung erzeugt den Eindruck, dass nicht Rechts-findung, sondern Rechtsvermeidung das Ziel ist. Ein Verhalten, das in der Praxis zunehmend als „Papierverteidigung“ bezeichnet wird – viel Text, keine Verantwortung.
Schwangere Versicherte – besondere Schutzpflicht, keine Belastungsprobe
Besonders kritisch ist der Fall, weil die Antragstellerin schwanger und erkrankt ist. Gerade in solchen Situationen gilt eine verstärkte staatliche und institutionelle Schutzpflicht. Das ergibt sich aus Art. 6 GG ebenso wie aus § 1 Abs. 1 und § 17 SGB I, wonach Sozialleistungsträger Verfahren „zügig und unbürokratisch“ durchzuführen haben.
Stattdessen erzeugt die SBK durch zögerliches Verhalten zusätzlichen Stress und Unsicherheit – das Gegenteil sozialstaatlicher Fürsorge. Verwaltungsrechtlich betrachtet ist ein solches Vorgehen unverhältnismäßig und rechtswidrig, moralisch ist es unanständig.
Ein strukturelles Problem – kein Einzelfall
Der Vorgang fügt sich ein in eine wachsende Zahl von Fällen, in denen die Siemens-Betriebskrankenkasse durch verzögernde oder intransparente Verfahrensführung auffällt. Immer wieder berichten Versicherte von langwierigen Akteneinsichtsverfahren, fehlender Kommunikation und juristisch überformten Ablehnungsschreiben.
Es wird sich also kaum um einen isolierten Fehler handeln – sondern um ein institutionelles Muster, bei dem Prozessrecht gezielt genutzt wird, um Ansprüche zu erschweren. Eine Praxis, die mit dem gesetzlichen Auftrag der Krankenkassen – „Gesundheit zu erhalten, zu fördern und wiederherzustellen“ (§ 1 SGB V) – kaum vereinbar ist.
Gerichtliche Konsequenzen und Signalwirkung
Sollte das Sozialgericht Köln der Antragstellerin Recht geben, hätte die Entscheidung Signalwirkung: Sie würde deutlich machen, dass Grundrechte im Sozialverfahren nicht verhandelbar sind. Eine Krankenkasse darf sich nicht erst dann gesetzestreu verhalten, wenn das Gericht sie dazu auffordert. Der Rechtsstaat funktioniert nur, wenn Verwaltungshandeln auch ohne richterliche Kontrolle gesetzeskonform ist.
Fazit: Transparenz ist keine Gnade
Dieser Fall steht stellvertretend für eine gefährliche Entwicklung: Immer häufiger versuchen Behörden, insbesondere Krankenkassen, durch juristische Formalismen und operative Intransparenz den Zugang zu Informationen und Leistungen zu erschweren. Doch Rechtsstaatlichkeit ist kein optionaler Verwaltungsaufwand. Sie ist die Grundlage jedes fairen Verfahrens – und sie gilt auch für die Siemens-Betriebskrankenkasse .
Schlussgedanke
Wer Grundrechte nur auf Druck des Gerichts gewährt, hat den Sinn sozialer Selbstverwaltung längst verfehlt. Es ist Aufgabe der Gerichte, aber auch der Öffentlichkeit, solche Praktiken sichtbar zu machen – bevor sie zum neuen Verwaltungsstandard werden. SBK-Watch dokumentiert fortlaufend Fälle, in denen Versicherte rechtswidrig oder unangemessen behandelt werden. Transparenz schützt – und ist das wirksamste Gegenmittel gegen institutionelle Willkür.